Schöne Musik als Ausdruck einer schwierigen Lebensphase
von Mathias Pack am 05.07.2022
Der Einstieg ist sehr nachdenklich: Im ersten Track rezitiert der 80-jährige Hannes Wader das Hölderlin-Gedicht "Die Nacht", das schöne Erinnerungen heraufbeschwört, die weit zurück liegen. Die vergangenen Jahre bezeichnet Wader als die aufwühlendsten und dramatischsten seines ganzen Lebens. Nicht nur Corona wird dabei eine Rolle gespielt haben, sondern auch eine schwere, überwundene Krankheit und die Trennung von seiner Frau. Er thematisiert das in einem Stück mit dem schlichten Titel: "Es ist vorbei".
Zum neuen Album hat Hannes Wader kürzlich ein Interview gegeben. Darin gibt er in ausgefeilten, aber knappen Worten Auskunft über seinen aktuellen Gemütszustand. Er macht sich Gedanken über den Tod. Das steckt schon im Titel des Albums: "Noch hier", denn das das könnte ja auch so viel heißen wie "bald vielleicht nicht mehr hier". Seine Texte sind wie immer tiefsinnig, kritisch und mit einer gesunden Prise Humor und Scharfsinn gewürzt.
Fast alle Lieder auf diesem Album haben für Hannes Wader eine persönliche Bedeutung. Die beschreibt er im sehr aufwändig gestalteten, über 60-seitigen Booklet. Mit dem Volkslied "Es dunkelt schon in der Heide" verbindet er zum Beispiel eine Kindheitserinnerung: Seine Mutter hat es ihm bei der Roggenernte vorgesungen. Der Text vom "Novembertag" stammt von seiner Großmutter; sie schrieb Gedichte und von ihr meint Wader sein poetisches Talent geerbt zu haben.
Zu den Höhepunkten des neuen Albums zählt ganz sicher ein Duett mit seinem langjährigem Freund Reinhard Mey. Die beiden singen "Le temps des cerises", ein altes, französisches Liebes- und Revolutionslied – und Lieblingslied beider. Das vielleicht stärkste Stück ist aber ein neues, mit dem Titel: "Schlimme Träume". Hier erzählt Wader u.a. über die Probleme, die das Alter so mit sich bringt; z.B. Beispiel die Vergesslichkeit, oder die vergebliche Suche nach guten Textideen.
Wie so oft in Hannes Waders Liedern steht der Text und seine prägnante Stimme im Vordergrund. Die Instrumentierung des Albums ist sehr vielfältig mit Bratsche, Cello, Drehleier, Harfe - die geben einen warmen Klang, der Waders unverkennbare Gesangsstimme sehr gut ergänzt und umschmeichelt. Alles in Perfektion aufgenommen und arrangiert von Produzentenlegende Günter Pauler.
"Noch hier" ist ein reifes Alterswerk, lupenrein produziert, mit zeitlosen Volksliedern, anrührenden Geschichten, guten Ideen und auch düsteren Gedanken. Wenn es nach Hannes Wader geht, soll es auch noch nicht sein letztes Werk gewesen sein. Hoffentlich …!?
Überraschend, abwechslungsreich, angenehm produziert – eine wahre Perle in Waders Spätwerk
von Viktor M. am 23.06.2022
Mit seinem neuen Studioalbum präsentiert Hannes Wader ein abwechslungsreiches, liebevoll produziertes Werk mit neuen und alten, eigenen und adaptierten Songs. Offenbar hat der 80-jährige Liedermacher noch viel zu sagen und zu singen – manches davon selbst für langjährige Kenner überraschend.
Wer hätte das gedacht: Sieben Jahre nach der letzten Studioproduktion gibt es eine neue Scheibe vom Altmeister Hannes Wader, der doch seinem Publikum oder sich selbst längst nichts mehr zu beweisen hat und zudem eigentlich vor Jahren Jahren beruflich in den Hintergrund trat. Umso mehr Dringlichkeit und Leidenschaft lässt sich hinter „Noch hier – Was ich noch singen wollte“ vermuten. Das Album bietet einen bunten Mix neuer und alter Lieder, wie man es von Wader immer gewohnt war.
Denn die alten Lieder, insbesondere Volkslieder, haben das Werk und Leben des Künstlers stets geprägt. So singt er auf dem neuen Album etwa das traurige „In stiller Nacht“ von Johannes Brahms in einem bemerkenswert zarten Arrangement, das von Harfenspiel getragen wird. „Es dunkelt schon in der Heide“ hingegen klingt so Wader-typisch, dass man fast denken könnte, es sei ein Outtake vom „Hannes Wader singt Volkslieder“-Album 1990. Auch gleich zwei französischsprachige Lieder finden sich auf dem neuesten Werk, von denen das alte Liebeslied „Plaisir d’amour“ vielleicht eher in den Hintergrund tritt, weil „Le temps des cerises“ das ganze Rampenlicht einfordert, ein Duett mit Waders altem Freund Reinhard Mey, der zudem als besonders frankophil bekannt ist – eine schöne, passende Idee. Die musikalische Umsetzung dieser freundschaftlichen Begegnung ist betont langsam gehalten, wirkt fast zerbrechlich – den zwei reifen Stimmen durchaus angemessen.
Aber Wader saß für das Album auch selbst am Schreibtisch und hat neue Eigenkreationen geschaffen, unter denen insbesondere „Es ist vorbei“ hervorzuheben ist, ein Lied, das mit großer Ehrlichkeit offensichtlich die eigene, in den jüngsten Jahren zerbrochene Ehe thematisiert – ungewöhnlich für den Dichter, der in seinen Liedern zwar immer authentisch gewesen ist, aber bei Privatangelegenheiten den Blick doch eher in die weite Vergangenheit zu lenken pflegte. Der Text voller negativer Gefühle ist allzu nachvollziehbar: Wer kennt es nicht, wenn man vielleicht aus der Vernunft heraus dankbar sein sollte, aber emotional das Positive einfach nicht in den Fokus rücken kann? Traurige Liebeslieder sind eben die besten. „Die längst abgelebten Glücksmomente verschwinden / aus meiner Erinnrung, verdunsten, verwehn. / Jetzt in deren Resten noch Trost zu finden / daraus Hoffnung zu schöpfen – wie soll das gehn?“
Die drei weiteren neuen Wader-Songs sind allesamt allein schon in ihrer Textmasse wuchtiger. „Klaas der Storch“ ist eine 7-strophige Ballade mit geradlinigem Erzählstil und handelt von einem alten Vogel, der u.a. mit Jungstörchen und dem Leben der Menschen vom Lande zu kämpfen hat.
Hingegen gibt es auch zwei Lieder, die einen weniger zusammenhängenden und eher assoziativen Stil pflegen, wie man ihn vielleicht aus Waders späteren Texten schon kennt; etwa „Wo ich herkomme“ (2015) hat ein ähnliches Konzept. Der Ausgangspunkt in „Vorm Bahnhof“ ist nun Vergesslichkeit. Und das führt zu Überlegungen über McDonalds, das Smartphone („Seine Algorithmen sind ja viel genauer, schlauer / als ich je war, bringen auch auf die Dauer viel mehr Power.“), Rachedurst und vieles mehr. Aber den roten Faden bilden dann überraschend Karl-Marx-Zitate, die gespenstisch aktuell klingen. In „Schlimme Träume“ ist der Name Programm und das Lied ist, wie es Träume so mit sich bringen, ebenfalls sprunghaft (explodierende Sonne und Schreibblockade sind nur einige Trauminhalte), nur sogar noch absurder, was für manche lustige Zeile sorgt.
Konzeptionell irgendwo zwischen den nachgesungenen Liedern und den Eigenkreationen anzusiedeln sind noch diejenigen Songs, in denen Vorlagen ausgeschlachtet werden. Und dass Hannes Wader auch viel knappere Texte hervorbringen kann, zeigt sich genau dann, wenn es die Form einer Vorlage erzwingt, etwa in der schönen eigenen Übersetzung des Folksongs „Once I Had a Sweetheart“, einst durch Joan Baez populär gemacht.
In „Alte Melodie“ gibt es völlig neue Verse auf eine musikalische Vorlage, nämlich eine unbekannte Schlagermelodie. „Und nun denk ich mir, ich kann / ein paar neue Verse dazu schreiben / und sie auch singen – dann und wann“: Das Lied erklärt sich also auf clevere Weise von selbst, Dichten übers Dichten sozusagen, und nimmt zum Abschluss die rätselhaften musikalischen Ursprünge als Anlass für Gedanken über Geheimnisse im Allgemeinen: „Weiß ich doch, solch ein Moment, / wenn ein Geheimnis – und sei es noch so klein – / endlich gelüftet wird, kann schmerzhaft sein.“
Als Vertoner fremder Texte nimmt sich Hannes Wader zum einen „Noch hier“ aus der Feder seines Dichterfreundes Manfred Hausin vor, das mit Vorwärts- und Rückwärtsblick zurecht programmatisch den Titel des Albums liefert, und zum anderen ein Gedicht seiner Großmutter, das 1912 in einer Zeitung abgedruckt wurde: „Novembertag“. Manchmal macht trübe Stimmung vielleicht die schönste Kunst aus – und dass Hannes Wader dieses Ambiente mag, ist womöglich ererbt. Der knappe Text voller Jahreszeitenthematik endet nämlich auf: „Der Tod geht um – Novembertag.“
Bei allem lobenswerten Abwechslungsreichtum ist „Noch hier – Was ich noch singen wollte“ aber mehr als nur eine lose Sammlung einzelner Stücke, denn der Spannungsbogen der Lieder ergibt einen schlüssigen Fluss. Auch wird das Album – erstmalig in Waders Diskographie – durch Gedichtlesungen eingerahmt: Anfang und Ende bilden nämlich Verse des Dichters Friedrich Hölderlin – in gänsehauthervorrufenden Rezitationen dank Waders reifer Stimme und dezenter Streichermusik vom Cellisten Martin Bärenz.
Überhaupt steht auf dem Album der Gesang im Vordergrund. Die Stimme klingt wohlvertraut, wenn auch – so soll es ja auch sein – spürbar älter. Die Arrangements sind dezente und geschmackvolle Anreicherungen, rücken dabei das Wesentliche nie aus dem Mittelpunkt. Da sind keine Pop-Elemente, kein Schlagzeug, keine E-Gitarrensoli (wie sonst manchmal in Waders Spätwerk), sicherlich dem Stockfisch-Produzenten Günter Pauler zu verdanken. Alte Wegbegleiter wie Nils Tuxen und Lydie Auvray sind als Gastmusiker beteiligt.
„Noch hier – Was ich noch singen wollte“ knüpft einerseits an das an, was Wader immer gemacht hat, denn viele Alben sind vormals so abwechslungsreich gewesen, was den Fundus der Liedquellen betrifft. Andererseits ist es aber auch für manche Überraschung gut, denn die gefühlvollen Arrangements stehen in großem Kontrast zu den jüngsten vorangegangenen Studioalben, manche Liedauswahl von Schlagermelodie bis Arie hätte man wohl kaum erwartet, das eigene „Es ist vorbei“ wirkt ungewohnt privat und zuletzt bietet die Umrahmung durch die gelesenen Gedichte ein bislang nicht dagewesenes Hörerlebnis.
Bei einem so gelungenen kreativen Output im Spätwerk wünscht man sich, dass Wader auch in Zukunft von sich hören lässt, wenn er etwas singen möchte, aber in der Zwischenzeit sei ihm Zufriedenheit wahrlich gegönnt, auf dass er vielleicht mit Hölderlin sage: „mehr bedarfs nicht“.
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